ANGST II. Die Erfindung der horizontalen Leiter. / FEAR II. The Invention of the horizontal ladder.

Die Einzelteile dieser kurzen Geschichte, die hier in möglichst konzentrierter Form erzählt werden wird, bestehen aus einem Mann, einer falschen Leiter und mehreren Brücken.
Mehr kommt eigentlich so gut wie nicht vor. –

Die Hauptperson – der Mann – wurde vor einiger Zeit dabei gesehen wie er eine der Brücken über den Kreuzberger Landwehrkanal auf sehr aufsehenerregende .. und vor allem maximal umständliche Art überquerte!

Das sah so aus:
Bei seiner Ankunft vor dieser Brücke blieb er stehen – nahm ein ziemlich umfangreiches Gepäckstück von seinem Rücken und legt es vor sich hin ..
Schon in diesem Augenblick wurden einige Passanten darauf aufmerksam dass hier etwas Seltsames geschieht .. Sie blieben stehen und sahen dem Mann dabei zu, wie er das Paket auspackte und entfaltete ..

.. und jeder der zu diesem Zeitpunkt anwesenden Passanten sieht unmittelbar, wobei es sich bei diesem mitgebrachten Gepäck handelt: Es ist eine Leiter aus Aluminium .. schmaler und zierlicher aber, als die üblichen Haushalts- und Handwerker-Leitern, die es massenhaft im Baumarkt zu kaufen gibt. – Und ausserdem besteht diese Leiter aus ca. 50-60 cm langen, an Scharnieren zusammenhängenden Gliedern, die sich nach Art eines Leporellos aufklappen lassen.
Schon zu diesem Zeitpunkt fingen manche an, mit ihren Smartphones Fotos von ihm zu machen. Ein Spaßvogel bemerkt zu seinem Nachbarn hin, der Mann brauche anscheinend noch eine Leiter um von einer Brücke aus ins Wasser zu springen.

Andere dachten, er bereite hier eine Artistik-Darbietung vor – oder eine Kunstperformance – und sammle nachher Geld ein.
Die nächste Überraschung war, dass er seine Spezial-Leiter – nachdem alle Glieder ausgelegt waren – keineswegs in Form eines umgedrehten V’s aufstellte und hinauf kletterte um da oben akrobatische Sprünge und Salto’s zu zeigen ..

Er klappte sie im Gegenteil völlig flach auf dem Gehsteig entlang des Brückengeländers zum andern Ende hin aus und fing währenddessen schon an, – darauf achtend, nur auf die Sprossen seines “Instruments” – oder wie soll man es nennen? – zu treten – vorsichtig balancierend darüber zu gehen .. bzw. liess er sich – da er offenbar wenig Übung darin hatte – rasch nieder und kroch zuerst flach dann mit hochgerecktem Hinterteil auf Händen und Füßen darüber hin.

Als er das letzte Glied seiner im Ganzen ca. 180-200 cm langen sozusagen “horizontalen Leiter” erreicht hat, geht er darauf vorsichtig in die Hocke und zieht ineinanderfaltend die nun hinter ihm liegenden Glieder wieder zu sich heran. Nach einer langsam und vorsichtig ausgeführten Drehung ist er wieder bereit, die einzelnen Elemente zur andern Seite auszulegen und Schrittchen für Schrittchen seinen weiteren Weg auf den schmalen Sprossen weiterzugehen.

Da die Brücke, auf der man ihn zum erstenmal dabei beobachtet hat, etwa 25 Meter lang war, musste er diesen Vorgang ca. 13 mal wiederholt haben, bis er sie überquert hatte. Dort jedenfalls, – wieder auf festen Boden tretend, – befestigte er sein Objekt zusammengefaltet in einem kleinen Gestell, befestigte es auf seinem Rücken und ging weiter wie alle anderen Passanten, die sich dort unterwegs befanden.

Weder sammelte er für seine Performance Geld ein, noch gab er irgendeine Erklärung ab.

Nachdem er schon bei dieser ersten Aufführung unzählige Male fotografiert worden war, tauchten im Netz sehr bald weitere Fotos von ihm auf – auf andern Brücken .. auch viel längeren – die auf den Sprossen seiner flachen Leiter zu überqueren ohne je den Asphalt der eigentliche Brücke zu berühren eine immense Anstrengung gewesen sein muss.

Von den Gerüchten, die inzwischen über den Grund seines Tuns im Umlauf sind, möchte ich hier nur zwei erwähnen, die einige Wahrscheinlichkeit besitzen.
Das erste – verbreitetste – ist das schon seit seinen Anfängen vermutete Motiv: Es sei ein Künstler, der mit dieser absonderlichen und ständig in aller Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen will. Oft wurde er schon nach Autogrammen gefragt. Offenbar völlig willkürlich hat er diese machmal gegeben, genauso aber sich ihnen verweigert ohne überhaupt zu reagieren. Die vielfach im Netz verbreiteten Fotos dieser Unterschriften zeigen zwar, dass es sich immer um diesselbe Handschrift handelt: entziffern lässt sich aber aus dem Gekritzel kein Name. Auch das führt zu weiteren Vermutungen. Der Mann habe ja vermutlich noch keinen in der Kunstwelt bekannten Namen – sei dort mit noch überhaupt nichts in Erscheinung getreten. Diese hartnäckigen Brückenüberquerungen ohne die tatsächliche Brücke zu berühren sollten vermutlich genau das bewirken: ihm die Tür in den Kunstmarkt aufzustoßen .. und wahrscheinlich verkauft er – wenn es soweit ist,- die dabei benutzte “horizontale Leiter oder Treppe” dann für sehr viel Geld.

Das andere grassierende Gerücht beruht ebenfalls auf einer angeblich “persönlichen” Auskunft:
Es besagt, der Mann habe geäussert vor einigen Wochen einen immer größeren inneren Widerstand entwickelt zu haben, über Brücken zu gehen. Er habe keinen einzigen Schritt mehr darauf gehen können, ohne dabei sich in allen Einzelteilen das Zusammenbrechen .. Und also den Einsturz dieser Brücke direkt unter seinen Füßen vorzustellen .. – und weiterhin seinen eigenen Sturz zwischen all den um ihn herum hinunter ins Wasser prasselnden großen und kleinen Steinen .. von denen er dann unrettbar in den schlammigen Grund des Kanals gedrückt und darin begraben werden würde.

Er habe immer größere Umwege genommen um Brücken nicht mehr betreten zu müssen – sei eben dann auch oft in die U-Bahn ausgewichen, obwohl ihn auch da ähnliche Ängste bedrängten. –
Auf diesen Umwegen sei ihm dann aber plötzlich die Idee gekommen, ein Hilfsmittel oder Instrument zu entwickeln, das verhindert dass seine Füße in direkten Kontakt mit der Brücke selber kamen. Davon habe er sich Rettung vor seinen Ängsten versprochen.
Die plötzlich ihm zufliegende Idee mit den Sprossen einer speziellen Leporello-Leiter hätte dann auch noch den unübertrefflichen – von ihm selber anfangs gar nicht beabsichtigten oder geplanten Effekt gehabt, – dass zwischen ihm und der Brücke einige Zentimeter freier Raum entstanden – er also während seiner ganzen Überquerung über ihr schweben würde!

Das die zwei, – wie man sagen könnte – bedeutendsten und wahrscheinlichsten Gerüchte.
Bzw. legt man sie nebeneinander, schliesst ja das eine das andere nicht aus!

Sagt man nicht oft, viele Künstler würden gerade von ihren ärgsten Ängsten zu ihren besten und intensivsten Werken inspiriert?

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PS

Vor einiger Zeit aber schon wurde der inzwischen ziemlich bekannte Mann bei einer seiner Brückenüberquerungen von einer Gruppe Jugendlicher attackiert. Sie stießen ihn lachend von seiner Leiter, hoben sie auf, zertrümmerten sie, indem sie sie wiederholt aufs Pflaster und Brückengeländer schlugen, bis sie an allen Scharnieren auseinander sprang. Die einzelnen Stücke warfen sie – vor und zurück über die Brücke rennend – weitausholend in den an dieser Stelle sehr breiten und entsprechend auch sehr tiefen Kanal.

Niemand unternahm etwas, sie daran zu hindern. Der Mann blieb anscheinend sofort als er sein Körper direkt den Asphalt berührte, reglos liegen, als fürchte er, bei jeder kleinsten Bewegung der Brücke die Erlaubnis oder sogar die bestimmte Anweisung zu erteilen im selben Augenblick einzustürzen.
Er wurde erst nach einiger Zeit von einem Erste-Hilfe-Wagen abgeholt.

Danach hat man ihn einige Zeit nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Man dachte vielleicht, er lasse sich eine neue Leiter anfertigen und meide bis zu ihrer Fertigstellung alle Brücken.
Doch tauchte er vor wenigen Tagen dann doch wieder auf einer Brücke auf.

Allerdings überraschte er alle, die ihn dabei beobachten konnten. Statt einer Leiter habe er nichts als ein großes Stück Backstein dabei gehabt mit dem er seine abhanden gekommene Leiter und ihre Sprossen vor jedem Schritt mit dicken rötlichen Kreidestrichen auf den Asphalt malte und dann genauso vorsichtig darauf balancierend wie auf seiner echten Aluminium-Leporello-Leiter sich Schritt für Schritt darauf vorwärtsbewegte.

Natürlich ersparte er es sich, die gemalte Leiter hinter sich wieder wegzuwischen .. Vielmehr hat man ihn inzwischen schon dabei gesehen, wie er Brücken auf seinen alten – Tage zuvor gemalten Sprossen überquerte .. und nur hin und wieder sehr stark verwischte nachzog, bevor seinen Fuß darauf setzte.
Starke Regengüsse schwemmten natürlich sehr schnell alle Spuren der Backstein-Kreide aus den Poren des Asphalts und er musste völlig neue anlegen.

Manche vermuteten, er habe eine neue richtige Leiter nicht mehr finanzieren können, und sei deshalb auf das quasi kostenlose Material von immer wieder mal im Stadtbild zu findenden Backstein-Resten ausgewichen. Andere – die Anhänger der “Künstler-Theorie” – meinten, der Überfall und die Zerstörung seiner richtigen Leiter könnte schon Teil seines Konzepts gewesen – oder zwang ihn jedenfals dazu – seine seltsamen Brückenüberquerungen weiterzuentwickeln und für neue Bilder zu sorgen.

Niemand weiß bis jetzt, was weiter mit ihm geschieht. Vielleicht wartet er bei jeder neuen Brückenüberquerung darauf, dass ihm wieder schwierige Herausforderungen und Hindernisse begegnen die ihn unwiderstehlich zu neuen Erfindungen provozieren. – Oder er will vielleicht ganz einfach von niemand gesehen und bemerkt werden – besonders von der Brücke selber nicht.

___english – rbtx______

FEAR II. – The Invention of the horizontal ladder.

The individual parts of this short story, which will be told here in the most concentrated form possible, consist of a man, a false ladder and several bridges.
Actually, there is almost nothing more to it. –

The main character – the man – was seen some time ago crossing one of the bridges over the Kreuzberg Landwehrkanal in a very sensational … and above all a very complicated way!

It looked like this:
When he arrived at the bridge he stopped, took a rather large piece of luggage from his back and put it in front of him.
Already in this moment some passers-by became aware that something strange was happening here … They stopped and watched the man unpack and unfold the package …

… and each of the passers-by present at this moment can see immediately what this luggage is: It is an aluminum ladder … but narrower and more delicate than the usual household and craftsman ladders, which can be bought en masse in hardware stores. – In addition, this ladder consists of approx. 50-60 cm long links connected by hinges, which can be folded up like a leporello.
Already at this time some people started to take pictures of him with their smartphones. A joker noticed to his neighbour, the man apparently needed an additional ladder to jump from a bridge.

Others thought he was preparing an artistic performance – or an art performance – and will be collecting money afterwards.
The next surprise was that he set up his special ladder – after the first limb was laid out – not in the form of an inverted V and climbed up to show acrobatic jumps and somersaults …

On the contrary, he unfolded it completely flat on the sidewalk along the bridge railing to the other end and in the meantime already started – paying attention only to the rungs of his “instrument” – or what should one call it? – or, as he obviously had little practice in this, he quickly settled down and crawled over it, first flat and then with his back stretched high, on his hands and feet.

When he has reached the last limb of his “horizontal ladder”, which is over all about 180-200 cm long, he carefully squats down and folds the limbs behind him and pulls them back towards him. After a slow and careful turn, he is ready to lay out the individual elements on the other side and continue his way step by step on the narrow rungs.

Since the bridge on which he was first seen doing this was about 25 meters long, he must have repeated this process about 13 times until he had crossed it. There at any rate, stepping on solid ground again, he fastened his object, folded it up in a small rack, put it on his back and went on like all other passers-by who were there on the way.

He neither collected money for his performance, nor did he make any statement.

After he had been photographed countless times during this first performance, more photos of him soon appeared on the net – on other bridges … even much longer ones – and it must have been an immense effort to cross them on the rungs of his flat ladder without ever touching the asphalt of the actual bridge.

Of the rumours that are now circulating about the reason for his actions, I would like to mention here only two that have some probability.
The first – the most common – is the motive that has been suspected since the beginning: it is an artist who wants to draw attention to himself with this constantly strange behaviour in public. He was often asked for autographs. Obviously completely arbitrarily he gave them sometimes, but he also refused them without even reacting. The photos of these signatures, which are often spread on the net, show that it is always the same handwriting: but no name can be deciphered from the scribblings. This also leads to further speculation. The man presumably does not yet have a name known in the art world – he has not yet appeared there with any personal work at all. These stubborn bridge crossings without touching the actual bridge were probably intended to do just that: to open the door to the art market for him … and probably – when the time comes – he will sell the “horizontal ladder or staircase” used in the process for a lot of money.

The other rampant rumor is also based on an allegedly “personal” piece of information:
It says that the man said he had developed an increasing inner resistance to crossing bridges. He had not been able to take a single step on it without getting into the phantasy of an instant collapse of the whole bridge … And thus to imagine his own fall between all the stones, large and small, that are crackling down into the water around with him in the middle of them all … and they would then press him irretrievably into the muddy bottom of the canal and bury him there.

He had taken increasingly long detours to avoid having to walk on bridges – and had often taken the subway, although he was also beset there by similar fears –
On this detour he suddenly had the idea to develop an aid or instrument that prevents his feet from coming into direct contact with the bridge itself. He hoped that this would save him feom his fears.
The sudden idea with the rungs of a special leporello ladder would have had the unsurpassable effect – which he himself had not intended or planned at the beginning – that there would be a few centimetres of free space between him and the bridge, so that he would hover over it during his whole crossing!

These are the two, one might say, most significant and probable rumors.
Or, if you lay them side by side, one does not exclude the other!

Isn’t it often said that many artists are inspired by their worst fears to create their best and most intense works?
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PS

Some time ago, however, the now quite well-known man was attacked by a group of young people during one of his bridge crossings. Laughing, they pushed him off his ladder, picked it up, smashed it by repeatedly hitting it on the pavement and bridge railings until it broke apart at all the hinges. They threw the individual pieces – running back and forth across the bridge – far out into the channel, which was very wide at this point and accordingly very deep.

Nobody did anything to stop them. The man apparently stopped motionless as soon as his body touched the asphalt directly, as if he feared it collapses at his slightest movement of the bridge, .. Or even more precise: giving permission or instruction by this to the bridge do so.
It took some time before he was picked up by a first-aid van.

After that he was not seen in public for some time. It was perhaps thought that he would have a new ladder made and avoid all bridges until it were finished.
But a few days ago he appeared again on a bridge.

However, he surprised everyone who could watch him. Instead of a ladder, he had nothing but a large piece of brick with which he painted his lost ladder and its rungs on the asphalt with thick reddish chalk strokes before each step and then, balancing on it just as carefully as he did on his real aluminium fanfold ladder, moved forward step by step.

Of course he saved himself the trouble of wiping the painted ladder behind him … In fact, you can already see him crossing bridges on his old rungs – painted days before … and only now and then very heavily blurred, he repaint parts of it before he put his foot on them.
Of course, heavy downpours quickly washed all traces of the brick chalk out of the pores of the asphalt and he had to lay completely new ones.

Some people suspected that he had not been able to finance a new real ladder, and so he had switched to the quasi free material of brick remnants that can be found from time to time in the townscape. Others – the supporters of the “artist theory” – thought that the robbery and destruction of his real ladder might have been part of his concept – or at any rate forced him to develop his strange bridge crossings further and to create new pictures.

Nobody knows yet what will happen to him. Maybe he is waiting for difficult challenges and obstacles to come his way again with every new bridge crossing – to be provoked irreversible to the next level. – Or maybe he doesn’t want to be seen or noticed by anyone .. especially not by the bridge itself.